Pyr

(Stadtpyr, Zirbelnuss)

Autor: Dr. Peter Stoll

Stand/Quelle/Datum: 2. Auflage Druckausgabe

  • Der heute zumeist als Zirbelnuss bezeichnete Bestandteil des Augsburger Stadtwappens ist erstmals auf Siegeln des 13. Jahrhunderts belegt. Ein Siegel von 1237 zeigt ein baumartiges Gebilde, das als Wachstum und Fruchtbarkeit symbolisierender Lebensbaum gesehen und hinter dem eine falsche mittelalterliche Etymologie des Stadtnamens vermutet wurde (lat. ’augere’ = wachsen, sich vermehren). Der spitz zulaufende Umriss sowie die Blattstruktur des Bäumchens von 1237 ähneln bereits der späteren geschuppten Zirbelnuss. Ehe sich diese Darstellung durchsetzte, wandelte sich der Baum zu einer Beere bzw. Traubendolde, was erstmals durch das Stadtsiegel von 1260 belegt ist und durch die mittelalterlichen Benennungen ’Stadtber’, ’Per’ oder ’Traub’ gestützt wird; der ebenfalls gebräuchliche Name ’bir’ bzw. ’pir’ dürfte auf ’Birne’ zurückgehen, was wohl auf die Umrissform Bezug nimmt.

    Die später übliche Form Pyr könnte sich aufgrund der im folgenden genannten Etymologien durchgesetzt haben. Den Akten eines Streits zwischen Stadt und Bischof von 1451 zufolge wurden im Mittelalter in Augsburg mehrere als ’Ber’ bezeichnete Steine gefunden, die man als von den Römern oder noch früheren Bewohnern (’haiden’) herstammend betrachtete; man verwendete sie u. a. als Grenz- bzw. Marksteine. Neueren Untersuchungen zufolge sind aus Augsburg besonders viele Exemplare einer römischen Schmuckform bekannt, die trotz stark von einander abweichender Ausprägungen dem Typus des Pinienzapfens zugeordnet werden, der den Römern als Fruchtbarkeits- und Unsterblichkeitssymbol galt. Er diente in der Architektur der Römer in Rätien wie in anderen Provinzen Mitteleuropas als Bekrönung von Pfeilergrabmälern (Römische Pfeilergrabmäler) und war deshalb häufig an den mit Gräbern gesäumten Straßen außerhalb der Städte aufzufinden. Da ausgesprochen beerenartige oder zumindest eine solche Deutung zulassende Varianten bekannt sind, erscheint die mittelalterliche Assoziation der ’Stadtbeere’ mit den römischen Fundstücken nachvollziehbar; möglicherweise hängt sogar die Modifikation des Baumes zur Beere mit diesen Funden zusammen. Dass das Zeichen im Augsburger Siegel tatsächlich römischen Ursprungs ist, ist damit natürlich nicht bewiesen.

    Eine abweichende Deutung vertrat Sigmund Meisterlin, der 1456 hinter dem Wappenbestandteil ursprünglich eine Flamme (griech. ’pyr’ = Feuer) vermutete, wie sie auch den Sarkophag des damals als Stadtgründer betrachteten Drusus in Mainz schmückt. Dieser Zusammenhang fiel auch Hektor Mülich auf, der, ohne das Ornament als Flamme zu deuten, daraus schloss, Drusus habe es der Stadt als Wappen verliehen. Erst im 16. Jahrhundert wurde die Beere als Zapfen eines Nadelbaumes gedeutet. In den 1530er Jahren sah Mariangelo Accursius in Augsburg ’Stadtberen’ wie die 1467 bei St. Ulrich und Afra gefundene, die ein Kapitell mit Frauenkopf besitzt, den er als den der Kybele deutete (mit der u. a. auch die vorrömische Göttin Cisa identifiziert wurde). Die ’Beere’ bestimmte er als die Frucht des der Kybele geweihten Baumes ’pinus’ (lat. Pinie, Kiefer) und führte die Bezeichnung ’pir’ auf eine Verwechslung mit ’pirus’ (lat. Birnbaum) zurück. Dabei dachte Accursius im Zusammenhang des Augsburger Wappens wohl nicht an die Pinie des Mittelmeerraums, sondern an andere Kiefernarten, da er vom häufigen Vorkommen dieses Baums in Germanien und (zumindest zur Römerzeit) um Augsburg spricht und als deutschen Namen des Zapfens ’cyrbelnuß’ angibt (was er fälschlich von Kybele ableitet). Der Name Zirbel war damals wohl noch unscharf und nicht wie heute auf die u. a. in Gebirgen Mitteleuropas vorkommende Zirbelkiefer (Pinus cembra) beschränkt, die kaum jemals im Gebiet um Augsburg gewachsen sein dürfte. Vielleicht dachten Accursius und seine Zeitgenossen an die in Mitteleuropa weit verbreitete Wald- oder Rotkiefer (Pinus sylvestris), deren Zapfen dem Pyr recht ähnlich sieht.

    Es ist festzustellen, dass lange Unsicherheit darüber bestand, wie der Augsburger Zapfen botanisch präzise zu bestimmen sei, und dass noch im 19. Jahrhundert vage von einem ’Fohren-, Fichten-, Lerchen- oder Tannzapfen’ (Raiser) die Rede war. Darstellungen, in denen die Beere entsprechend dieser neuen Interpretation zum Zapfen umstilisiert ist, tauchten erstmals Mitte des 16. Jahrhunderts auf, und, obwohl die Stadtsiegel bis 1806 noch z. T. die ’Beere’ zeigten und sie sich auch in den städtischen Beschauzeichen noch lange erhielt, setzte sich der Zapfen letztendlich durch. Daran änderten auch Bedenken etwa Hieronymus Fröschels nichts, der in seiner Hauschronik zwar der Herkunft des Pyr aus dem Kybele-Kult zustimmte, es aber bedauerte, dass man dessen christliche Umdeutung zur Weintraube rückgängig gemacht habe und ’die abgöttisch Teufelshuer sambt irer Zirbelnuß wider [habe] aufrichten’ müssen. Markus Welser lehnt in seiner Stadtchronik wie Accursius die Beeren-Deutung ab, sieht aber keinen Zusammenhang mit Kybele. Vielmehr sei die ’Nuß von einem Hartzbaum’ in römischer Zeit zu einer Art Wappen der Augusta Vindelic(or)um oder sogar Rätiens geworden, weil dieses Gebiet besonders reich an Nadelbäumen war. Die irrige Annahme, dass dieses Zeichen Grenzsteine schmückte, führte ihn zur Ableitung von dem lateinischen Wort ’pyramis’ (Pyramide), das vereinzelt auch in der Bedeutung ’Grenzstein’ belegt ist. Welsers Theorie von der Kontinuität des Zapfens als Bestandteil des Stadtwappens seit der Römerzeit hat sich als unhaltbar erwiesen, wurde aber bis ins 19. Jahrhundert vertreten. Spuren davon, dass der Pyr früher zur Markierung von Gerichtsbezirken verwendet wurde, haben sich bis heute erhalten. Daneben wurde er immer wieder an öffentlichen Bauten angebracht; repräsentative Beispiele schmücken noch heute die Giebel von Rathaus und Zeughaus.

Literatur:

Markus Welser, Chronica der weitberuempten [...] Statt Augspurg, 1595, 25 ff.

Friedrich Roth, Das Aufkommen der neuen Augsburger Statpir mit dem Capitäl und dem Cisa- oder Cybelekopf um 1540, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 35 (1909), 115-127

Romuald Bauerreiss, Arbor Vitae, 1938, 65 ff.

Klemens Stadler / Friedrich Zollhoefer, Wappen der schwäbischen Gemeinden, 1952, 113 ff.

Eduard Zimmermann, Augsburger Zeichen und Wappen, 1970, IX ff.

Ulrich Stoll, Pinienzapfen und Zirbelnuß, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 79 (1985), 55-110

P. Johanek, Geschichtsschreibung und Geschichtsüberlieferung, in: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts, 1995, 162-171.

Pyr, 2./3. Jahrhundert n. Chr., Sockel im 16. Jahrhundert umgearbeitet