Domkapitel

Autor: Dr. Günter Hägele

Stand/Quelle/Datum: 2. Auflage Druckausgabe

  • Ursprünglich ein Klerikerkollegium, das an einer Kathedralkirche unter einer gemeinsamen Regel (’Vita communis’ nach der Chrodegangregel von 760 oder nach der Aachener Regel von 816) lebt; die Mitglieder wurden sowohl zum Vollzug der Liturgie als auch zu Verwaltungsdiensten herangezogen. Die Priesterweihe war nicht verpflichtend, vielmehr überwogen im Regelfall die niederen Weihegrade (Diakon, Subdiakon). Der Zeitpunkt der Entstehung einer solchen Gemeinschaft am Dom lässt sich für Augsburg nicht genauer bestimmen; sicher bezeugt ist ein Domkapitel jedenfalls erst für das 10. Jahrhundert in der Ulrichsvita des Gerhard von Augsburg. Keimzelle des Augsburger Domkapitels war möglicherweise die Klerikergemeinschaft bei St. Afra, deren Lebensform – bis 1012 wahrscheinlich kanonikal – für die Frühzeit nicht klar erkennbar ist. Bis zu Bischof Ulrich diente die Afrakirche als Grablege der Augsburger Bischöfe. Der Sitz des Bischofs wurde möglicherweise schon durch Bischof Simpert (778-807) in die Stadt verlegt (Bischof Wikterp, † um 772, residierte z. B. in Epfach/Lech); aus diesem Anlass könnten Kanoniker von der Afrakirche an die Kathedralkirche St. Marien abgeordnet worden sein. Um 1100 gaben die Domkanoniker ihr gemeinschaftliches Leben auf und verließen die Domburg, um, gestützt auf ihre Domherrenpfründen, außerhalb der Pfalz in Kurien zu residieren. Es entstanden die vornehmlich im Domviertel gelegenen Domherrenhäuser. Die Kanoniker kamen nur mehr zu Chorgebet, Choramt und Beratungen (Kapitel) zusammen. Schon seit dem 9. Jahrhundert zeichnete sich außerdem eine Trennung des bischöflichen und des domkapitelschen Vermögens ab. Im Gegensatz zu anderen Domkapiteln, die seit dieser Trennung ihr Vermögen auf die einzelnen Kanonikate verteilten, blieb in Augsburg das domkapitelsche Vermögen Gemeinschaftsbesitz und stand bis 1525 unter der Verwaltung des Dompropstes, der den Kanonikern ihre Präbende zuwies.


    Der Dompropst war Vorsitzender des Domkapitels mit umfassender Leitungsbefugnis (Jurisdiktion über Kanoniker und Chorpersonal) und Vorrangstellung. Zweite Dignität war der Domdekan (seit 1141 gleichzeitig Augsburger Archidiakon), politischer Leiter des Domkapitels. Mindere Dignitäten waren die Ämter des Kustos (verantwortlich für den baulichen Zustand des Doms sowie als Thesaurar zuständig für die Behandlung und Aufbewahrung von liturgischen Büchern, Reliquien, Paramenten und Geräten des Domschatzes), des Scholastikus (zuständig für den Chorgesang und das Unterrichtswesen in Stadt und Diözese) und des Cellarius (zuständig für den ’Pfaffenkeller’ bei St. Barbara, für den er einen Verwalter einsetzte; der Ausschank von Bier und Wein in diesem kapitelseigenen Wirtschaftsunternehmen war nur an Geistliche erlaubt). Die Zahl der Kapitulare mit Pfründe sowie Sitz und Stimme im Kapitel war seit dem Spätmittelalter auf 40 festgeschrieben (bis 1806). Der Weihbischof konnte, musste aber nicht dem Domkapitel angehören. Für die Vierherren (seit 1313/20) waren Priesterweihe und Residenzpflicht vorgeschrieben. Sie waren trotz Pfründenbesitzes nicht im Kapitel stimmberechtigt. Ähnlich wie die Domvikare vertraten sie die nicht residenzpflichtigen Kapitulare beim Chorgebet und beim Chorgottesdienst. Seither wurde zwischen den ’canonici capitulares’ und den ’canonici non capitulares’ unterschieden, wobei zu Letzteren später auch jene Domvikare zählten, die Aufgaben in den Verwaltungsbereichen des Generalvikariats, des Geistlichen Rats und des Konsistoriums innehatten. 1335 lag die Zahl der Chorvikare bei 25, sie erhöhte sich im Spätmittelalter mit der Vermehrung der Altarpfründen auf 40. Der Einfluss Roms auf die Besetzung der Domherrenstellen (und damit auf die Bischofswahl) setzte sich langsam seit der Mitte des 13. Jahrhunderts durch; bis 1500 erlangten ca. 80 Augsburger Domkapitulare ihre Pfründen mit päpstlicher Provision. 1420 beschloss das Domkapitel, nur noch Adelige (nobiles), Ritterbürtige (ministeriales) und Bürgerliche mit akademischem Grad aufzunehmen. 1539 waren unter den 40 Domherren zwei nichtadelige Mitglieder. Gegen den Protest der Reichsstadt blieben seit ca. 1500 Augsburger Bürger und Bürgersöhne gänzlich aus dem Domkapitel ausgeschlossen; damit wurde eine im Prinzip bis ins 14. Jahrhundert zurückreichende Praxis endgültig sanktioniert. Auch langjährige Prozesse vor der Rota in Rom (z. B. Bernhard Arzt) vermochten daran nichts zu ändern. Im frühneuzeitlichen Augsburg stärkten die Domkapitulare nach dem Auszug des Bischofs in die Dillinger Residenz 1537 die gegenreformatorischen Aktivitäten in der paritätischen Reichsstadt. Domherren, Vikare und die weltlichen Beamten des Domkapitels sowie die Bediensteten der Kapitulare waren von der Gerichtsbarkeit und Ungeldbesteuerung durch die Reichsstadt ausgenommen (Immunität). Die Privilegierung dieses sogenannten ’pfalzfähigen’ Kreises sorgte für zahlreiche Spannungen mit dem Magistrat, die bis zur Säkularisation weitgehend ungelöst blieben.

    Das heute bestehende Domkapitel geht auf die kirchliche Neuorganisation nach der Säkularisation von 1802/03 zurück. Im Gegensatz zu den Domkapiteln des Alten Reiches, die vom jeweiligen Bischof rechtlich unabhängige Gremien mit korporativer Selbständigkeit waren, ist die eigenständige Stellung seither wesentlich eingeschränkt. Das Domkapitel in seiner heutigen Form ist dem Bischof untergeordnet und erfüllt die Aufgaben eines Beratungsorgans in Verwaltungs- und Seelsorgefragen. Als Referatsleiter im Ordinariat oder als Weihbischöfe sind die Domkapitulare jedoch weiterhin maßgeblich an der Leitung des Bistums beteiligt, auch wenn die Stellung als ’Senat des Bschofs’ dem Priesterrat übertragen wurde. Die Wiederherstellung des Domkapitels nach der Auflösung von 1802/03 regelte das bayerische Konkordat vom 5.6.1817. Die gültige Rechtsgrundlage bildet das bayerische Konkordat vom 29.3.1924. Derzeit (Stand 1998) umfasst das Augsburger Domkapitel neben Dompropst und Domdekan acht Domkapitulare und sechs Domvikare.

Literatur:

Otto Leuze, Das Augsburger Domkapitel im Mittelalter, Diss. Tübingen 1908 (auch in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 35, 1909, 1-115)

Friedrich Zoepfl, Das Bistum Augsburg und seine Bischöfe im Mittelalter, 1955

Ders., Das Bistum Augsburg und seine Bischöfe im Reformationsjahrhundert, 1969

Rolf Kießling, Bürgerliche Gesellschaft und Kirche in Augsburg im Spätmittelalter, 1971, 323-352

Peter Rummel, Katholisches Leben in der Reichsstadt Augsburg (1650-1806), in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 18 (1984), 9-161

Rudolf Schieffer, Die Entstehung von Domkapiteln in Deutschland, 1976, 166-171

Norbert Hörberg, Libri sanctae Afrae, 1983, 185-195

Joachim Seiler, Das Augsburger Domkapitel vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Säkularisation, 1989

Thomas Groll, Das neue Augsburger Domkapitel, 1996.